Belgrad ist die Nacht
Die serbische Metropole bietet wenig fürs Auge, aber viel fürs Herz. Die Jugend sorgt für das Fortbestehen einer Stadt, die ihren Platz in der Neuzeit noch finden muss.
Einst verliehen ihr grelle Kalksteinbauten den Namen Belgrad: «weisse Stadt». Aber beim Anblick der Metropole im Herzen des Balkans ist von diesem Weiss nicht mehr viel zu sehen. Graue Plattenbauten erheben sich starr in Novi Belgrad; Wohnsilos mit scheinbar abertausenden Balkonen und stummen Gesichtern, die auf eine Stadt blicken, die nicht für sich wirbt. Wolken werfen schemenhafte Karikaturen auf den Genex-Turm, welcher als westliches Tor zur Stadt ein Überbleibsel des sowjetischen Architekturkannibalismus’ bildet. Solche Bauten scheinen zu schlucken, ohne zuzubeissen.
So fährt Taxifahrer Jovan durch die Strassen der 1,3-Millionen-Stadt, zeigt auf Brücken und Gebäude, einige noch gebrandmarkt durch den Bombenhagel der Kriegszeit. Jüngstes Kapitel einer bewegten Geschichte: Belagerung der Osmanen, Sowjetunion, Balkankrieg. Jovan sagt: «Belgrad ist nicht schön» und versteht den Touristen nicht, der hierher kommt. Nun, keine Schönheit, aber Charakter.
Ohne Jugend keine Zukunft
Belgrad hat einen eigenartigen Puls, der bei Streifgängen durch die Stadt spürbar wird – entlang dem Bulevar Kralja Alexandra oder der Knez Mihailova. Breite Strassen gesäumt mit Popcorn-Verkaufsboxen, immer vollen Kafanas, den Bistros. Roma-Kinder stehen auf der Strasse, mit wachsamen Augen und den kleinen Händen griffbereit. Am Tag befinden sich die Menschen im Kaufrausch, legen Dinare in den Nike- und Adidas-Filialen auf den Tisch – die Markenpreise sind westlich, der Monatslohn nicht: durchschnittlich 300 bis 400 Euro.
Belgrad gewinnt in der Nacht an Reiz und an Leben: Wenn der Schmutz mit riesigen Schläuchen von den Strassen gespritzt wird, und das Dröhnen der Maschinen durch die Fenster dringt, ist der schwere Atem der Millionenstadt zu hören. In diesen Stunden liegt sie in einem unsteten Schlaf. Was jung ist, strömt dann von Bar zu Bar. Eine immerwährende Jugend regiert heimlich die Stadt. Bis in die späten Morgenstunden wird auf den zahlreichen Party-Booten unten an der Sava gefeiert und getanzt, mit festem Rhythmus auf ein Fortbestehen der Stadt. In der Altstadt fliesst launiger Jazz aus schummrigen Bars – und bis weit in die Agglomeration hinaus spiegelt sich am Himmel die Schlaflosigkeit von Spielsalon-durchzechten Nächten.
Sie dauert Jahre, die Belgrader Nacht, aber an ihrem Ende füllen sich die Strassen mit Arbeitern und Beamten, die den Schritt der heimkehrenden Jugend aufnehmen und mit Lachen begrüssen. Hätte diese Stadt keine Jugend, gäbe es sie längst nicht mehr. Und hätte sie keine Nacht, gäbe es hier längst keine Jugend mehr.